Dienstag, 29. Dezember 2015
Die Liebende - Rainer Maria Rilke
Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?

Ich könnte meinen, alles
wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.

Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir; so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los

den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie niebeschrieben
sieht mich mein Schicksal an.

Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt,

rufend zugleich und bange,
daß einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.
(Band 1 S. 621-622)
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Sonntag, 27. Dezember 2015
Kelch am Abend - Konrad Weiß


Abend, komm der einen Seele,
die ich habe ohne Wahl,
daß ich sie dem trunknen Gral
deines Opferschanks vermähle.

Bringe fließend um sie trüber
nicht ein Wissen, daß ich bin,
ach, es geht der Meingewinn
immer in Verwerfung über.

Und der ungehemmte Fluß
geht die Ufer schneller hin,
als den Kelch sie trinken muß.

Niemals bin ich jener reinen
Sonne Schild im Widerscheinen,
Blätter, wenn sie hangen dicht,
dunkeln, wie ich dunkle, nicht,
der da bleicht aus Jahrgebeinen.

Jenem Schein, der widerfährt,
wenn das Licht zum Ursprung nieder
tauchend netzt die wachen Lider,
trägt er ziellos nach den Herd.

Daß der Brand nicht scheinlos glüht,
laß die Hüllen dichter wallen,
Gluten, die hier ungewillt
mit dem Staub in nichts zerfallen,
tränen tauschwer ungemüht
doch mit Segen ins Gefild.

Konrad Weiß, 1920
Aus der Sammlung Wanderer in Tagen



Eines Morgens Schnee - Konrad Weiß
Konrad Weiß (1880–1940)

„Es ist kein Trost...
Das Land scheint dir so weit und ganz zerbrochen,
die weißen Berge gleich dem schweren Rest
von einem Himmel, den du nie besprochen,
und der, je mehr du sprichst, dich werden läßt
gleich einer Spur, die sich aus ihm verlor,
und die du kennst, wenn dir im Herzen fror.
So geh nun fort, und was umsonst bestritten,
du Tag und Nacht, was schon um Licht verdorrt,
was du gelebt, was du dir selbst inmitten
gelöst, du Mensch, im stets zerbrochnen Wort,
auf dunkler Spur mit unhörbaren Schritten
gewinnt die Zeit ihr Licht, geh mit ihr fort,
noch blüht zur stillen Nacht die Spur so frisch
wie alle Ernte auf dem Ladentisch.



Freitag, 25. Dezember 2015
Hab Sonne im Herzen - Cäsar Flaischlen


Hab Sonne im Herzen,
ob's stürmt oder schneit,
ob der Himmel voll Wolken,
die Erde voll Streit!
Hab Sonne im Herzen,
dann komme, was mag!
das leuchtet voll Licht dir
den dunkelsten Tag!
Hab ein Lied auf den Lippen,
mit fröhlichem Klang
und macht auch des Alltags
Gedränge dich bang!
Hab ein Lied auf den Lippen,
dann komme, was mag!
das hilft dir verwinden
den einsamsten Tag!
Hab ein Wort auch für Andre
in Sorg und in Pein
und sag, was dich selber
so frohgemut läßt sein:
Hab ein Lied auf den Lippen,
verlier nie den Mut,
hab Sonne im Herzen,
und Alles wird gut!



Donnerstag, 24. Dezember 2015
Bergfahrt - Manfred Kyber


Weinend sank ins Grab der Zeiten
ferner Täler Lust und Weh.
Bergwärts in den ewigen Schnee
führt der Weg der Einsamkeiten.

Eine steingewordne Sage
ruhn die Gipfel riesengroß –
gottesnah und menschenlos,
wie am ersten Schöpfungstage.

Tot ist aller Wunsch und Wille,
Staub ist aller Erdensinn.
Nur der Geist vom Urbeginn
redet in der Tempelstille.



Abenddämmerung - Heinrich Heine


Am blassen Meeresstrande
Saß ich gedankenbekümmert und einsam.
Die Sonne neigte sich tiefer, und warf
Glührote Streifen auf das Wasser,
Und die weißen, weiten Wellen,
Von der Flut gedrängt,
Schäumten und rauschten näher und näher -
Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen,
Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen,
Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen -
Mir war, als hört ich verschollne Sagen,
Uralte, liebliche Märchen,
Die ich einst, als Knabe,
Von Nachbarskindern vernahm,
Wenn wir am Sommerabend,
Auf den Treppensteinen der Haustür,
Zum stillen Erzählen niederkauerten,
Mit kleinen horchenden Herzen
Und neugierklugen Augen; -
Während die großen Mädchen,
Neben duftenden Blumentöpfen,
Gegenüber am Fenster saßen,
Rosengesichter,
Lächelnd und mondbeglänzt.

Heinrich Heine



Sonntag, 20. Dezember 2015
Gedichte Manfred Kyber
Manfred Kyber

DER GEWEIHTE DES GRALES

Alle Tiere sind Geschöpfe Gottes –
bringe ihnen der Liebe Gral
und tilge von deiner entweihten Stirne
der Menschheit blutiges Kainsmal.

Alle sind deine Brüder und Schwestern,
mit dir in die Kette der Dinge gereiht.
Erst wenn das letzte Geschöpf befreit ist,
bist du, Befreier, selber befreit.

Über allem, was atmet, halte schirmend,
Geweihter des Grales, deinen Schild.
In allem, was atmet, bist du und dein Leben
und Gottes Ebenbild.



DIE TOTEN

Die Toten starben nicht. Es starb ihr Kleid.
Ihr Leib zerfiel, es lebt ihr Geist und Wille.
Vereinigt sind sie dir zu jeder Zeit
in deiner Seele tiefer Tempelstille.

In dir und ihnen ruht ein einiges Reich,
wo Tod und Leben Wechselworte tauschen.
In ihm kannst du, dem eigenen Denken gleich,
den stillen Stimmen deiner Toten lauschen.

Und reden kannst du, wie du einst getan,
zu deinen Toten lautlos deine Worte.
Unwandelbar ist unsres Geistes Bahn
und ewig offen steht des Todes Pforte.

Schlagt Brücken in euch zu der Toten Land,
die Toten bau’n mit euch am Bau der Erde.
Geht wissend mit den Toten Hand in Hand,
auf dass die ganze Welt vergeistigt werde.

MEDITATION

Wer mit den Augen der Andacht geschaut,
wie die Seele der Erde Kristalle baut,
wer die Flamme im keimenden Kern gesehn,
im Leben den Tod, Geburt im Vergehn –
wer in Menschen und Tieren den Bruder fand
und im Bruder den Bruder und Gott erkannt,
der feiert am Tische des Heiligen Gral
mit dem Heiland der Liebe das Abendmahl -
er sucht und findet, wie Gott es verhieß,
den Weg ins verlorene Paradies.

Alle Gedichte aus: "Genius astri"



Der Mensch ist bald vergessen - Achim von Arnim


Der Mensch ist bald vergessen
der Mensch vergißt so bald,
der Mensch hat nichts besessen,
er sterb´ jung oder alt.
Der Mensch ist bald vergessen,
nur Gott vergißt uns nicht,
hat unser Herz ermessen,
wenn es in Schmerzen bricht.
Wir steigen im Gebete
zu ihm wie aus dem Tod,
sein Hauch, der uns durchwehte,
tat unserm Herzen not.



Federico Garcia Lorca
Federico Garcia Lorca

“In dem gelben
Turm der Kirche
läutet eine Glocke.

Auf dem gelben
Winde öffnen
sich weit die Glockentöne.

In dem gelben
Turm der Kirche
höret auf die Glocke.

Der Wind macht aus dem Staube
verwehnde Silberbüge.”

Federico Garcia Lorca gehörte zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. 



Sonntag, 13. Dezember 2015
So viele Dinge liegen aufgerissen
Rainer Maria Rilke 1875 bis 1926

So viele Dinge liegen aufgerissen
Von raschen Händen, die sich auf der Suche
Nach dir verspäteten: Sie wollten wissen.
Und manchmal ist in einem alten Buche
Ein unbegreiflich Dunkles angestrichen.
Da warst du einst. Wo bist du hin entwichen?

Hielt einer dich so hast du ihn zerbrochen,
Sein Herz blieb offen und du warst nicht drin.
Hat je ein Redender zu dir gesprochen,
So war es nichts als das: Wo gehst du hin.

Auch mir geschahs. Nur daß ich dich nicht frage,
Ich diene nur und dränge dich um nichts;
Ich halte wartend meines Angesichts
Williges Schauen in den Wind der Tage
Und klage den Nächten nicht daß ich so wenig weiß.

Ich seh sie wissen.

Rainer Maria Rilke
Gedichte | Nachlass | Entwürfe | Capreser Aufzeichnungen
Capri, Ende Dezember 1906