Donnerstag, 24. Dezember 2015
Bergfahrt - Manfred Kyber


Weinend sank ins Grab der Zeiten
ferner Täler Lust und Weh.
Bergwärts in den ewigen Schnee
führt der Weg der Einsamkeiten.

Eine steingewordne Sage
ruhn die Gipfel riesengroß –
gottesnah und menschenlos,
wie am ersten Schöpfungstage.

Tot ist aller Wunsch und Wille,
Staub ist aller Erdensinn.
Nur der Geist vom Urbeginn
redet in der Tempelstille.



Abenddämmerung - Heinrich Heine


Am blassen Meeresstrande
Saß ich gedankenbekümmert und einsam.
Die Sonne neigte sich tiefer, und warf
Glührote Streifen auf das Wasser,
Und die weißen, weiten Wellen,
Von der Flut gedrängt,
Schäumten und rauschten näher und näher -
Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen,
Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen,
Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen -
Mir war, als hört ich verschollne Sagen,
Uralte, liebliche Märchen,
Die ich einst, als Knabe,
Von Nachbarskindern vernahm,
Wenn wir am Sommerabend,
Auf den Treppensteinen der Haustür,
Zum stillen Erzählen niederkauerten,
Mit kleinen horchenden Herzen
Und neugierklugen Augen; -
Während die großen Mädchen,
Neben duftenden Blumentöpfen,
Gegenüber am Fenster saßen,
Rosengesichter,
Lächelnd und mondbeglänzt.

Heinrich Heine